Als sie schließlich die Portalstadt erreichten, schlug Mercia die Kapuze ihres Umhangs hoch, um ihre roten Haare zu verdecken, und senkte den Blick. Durch den letzten Krieg war sie den meisten inzwischen keine Fremde mehr, also sollte sie sich bedeckt halten, so wenig ihr das auch passte. Aber mit Hilfe von Nathanaels Erfindung würden bald wieder ganz andere Zeiten anbrechen, und dann würde sie hoch erhobenen Hauptes durch die Zerstörung schreiten, die sie angerichtet hatte!

Mercias böses Grinsen erweiterte sich noch. "Eine gute Idee", lobte sie Nathanael. Sie warf einen Blick auf das Reagenzglas. "Dann pack das sorgfältig ein, wir brechen sofort auf." Und damit marschierte sie zur Tür hinaus.

-> Straßen Portalstadt

"Du musst nur einmal stolpern", erinnerte Mercia ihn, auf weitere Diskussionen hatte sie jedoch keine Lust. "Mit Chaos, aber so, dass niemand Lucilia und ihre Bande von Scheinheiligen vorwarnen kann", entschied sie mit einem bösen Grinsen. "Sie sollen ja nicht die Möglichkeit haben, ein Gegenmittel zu entwickeln, bevor es sie trifft."

Mercia war völlig unbeeindruckt von den Gerüchen, die im Labor herrschten, denn auf einem Schlachtfeld roch es schlimmer. Sie folgte Nathanael, wobei sie sich aufmerksam umsah. Bei seiner Prahlerei musterte sie nur mit hochgezogener Augenbraue das Reagenzglas in seiner Hand. "Solltest du es dann nicht in einem etwas weniger zerbrechlichen Behältnis aufbewahren?", kritisierte sie ihn. Sie hatte schließlich keine Lust, dass ihr ganzes Dorf in Flammen aufging. "Wir sollten es testen gehen", beschloss sie dann. "Ich möchte seine Wirkung mit eigenen Augen sehen." Ein böses Grinsen schlich sich auf ihre Lippen. "Ich will sichergehen, dass es genug Zerstörungskraft entfaltet, um Casus ins Chaos zu stürzen."

Mercia folgte Nathanael durch das Dorf zu seinem Labor. Sie war ja doch gespannt darauf, was er zuwege gebracht hatte, auch wenn sie ihn grundsätzlich nicht für den Hellsten hielt. Aber er war ein nützliches Werkzeug. Wie nützlich genau, würde sich jetzt zeigen.

-> Nathanaels Labor

In Mercias Augen war es nur Nathaneals eigene Blindheit, die ihn übersehen ließ, wofür ein Mädchen wie Luna nützlich sein konnte. Doch sagte sie nichts dazu, denn was er von seiner Tochter hielt, konnte ihr egal sein, solange er sich nicht in ihre Pläne einmischte. Bei Nathaneals Worten horchte sie auf. "Dann lass uns in dein Labor gehen", bestätigte sie.

Mercia schritt stolz erhobenen Hauptes über den Hauptplatz. Sie hatte in den letzten Jahren hier wirklich einiges aufgebaut und war zuversichtlich, dass sie für eine Weile gehen konnte, ohne dass komplettes Chaos ausbrechen würde. Sie wollte sich gerade wieder zu ihrer Hütte begeben, als ihr Blick auf Nathaneal fiel, den Vater Lunas, der in Gedanken versunken zu sein schien. Sie beschloss, dass es sicher förderlich wäre, ihm von den Fortschritten seiner Tochter zu berichten - zumindest grob. Es war ein Entgegenkommen, bei dem man nicht wusste, wie es sich bezahlt machen würde. "Guten Tag, Nathaneal", begrüßte sie ihn also förmlich. "Es freut mich, dir berichten zu können, dass deine Tochter Fortschritte in Casus zu machen scheint."

Mercia war sehr zufrieden damit, wie das Gespräch mit der kleinen Luna gelaufen war. Die Kleine schien ja doch zu etwas nützlich zu sein. Jetzt würde sie zur Basis zurückkehren und dort für Ordnung sorgen, bevor sie sich auf die Suche nach neuen Anhängern machte.

-> Basis der Verbannten, Hauptplatz

"Sehr gut", erwiderte Mercia auf Elainyras Worten hin. Die Kleine erwies sich bisher als wirklich nützlich. "Dann solltest du jetzt zurückkehren, bevor du noch vermisst wirst. Wir treffen uns in drei Monaten wieder hier." Das dürfte genug Zeit für sie sein, um etwas erreichen zu können. Und bis dahin würde Mercia weiter durch die Lande reisen und andere Verbannte suchen und für ihr Vorhaben anwerben.

Mercia schenkte Luna ein schmales Lächeln, das durch die Narben in ihrem Gesicht verzerrt wurde. "Gut. Ich werde das im Hinterkopf behalten, vielleicht wird uns das irgendwann noch einmal nützlich werden. Ich habe allerdings noch einen Auftrag für dich." Sie schwieg kurz, um sicher zu gehen, dass sie die volle Aufmerksamkeit des Mädchens hatte. "Lilith und Lucilia wollen eine neue Ordnung erschaffen", begann sie dann mit ihrer Erklärung. "Deine Aufgabe wird sein, den Menschen in der Stadt zu zeigen, dass sie dazu nicht in der Lage sind. Stifte Chaos. Stehle, morde, betrüge, was immer dir in den Sinn kommt, nur lass dich nicht erwischen. Die Menschen sollen an den Fähigkeiten ihrer Anführer, sie zu beschützen, zweifeln. Wir werden sie von außen und von innen zersetzen, bis sie keinerlei Macht mehr haben. Und dann holen wir sie uns." Bei ihren letzten Worten verwandelte sich Mercias Lächeln in ein grausames, rachsüchtiges Grinsen, das ihr Gesicht auf eine angsteinflößende Art schön aussehen ließ.

"Lilith lebt also noch und hält immer noch ihre Verbannungen ab", grollte Mercia mit Zorn in der Stimme und spürte wieder, wie ihr Mal an der Schulter brannte. Dann konzentrierte sie sich wieder auf Lunas Worte. "Hat sie das mit der schmutzigen Arbeit so gesagt oder interpretierst du das in ihre Worte hinein?", fragte sie genauer nach. Denn wenn diese Emerelle das so offen zugab, war sie wohl mehr als dumm und für ihre Zwecke wohl eher unbrauchbar. Aber wenn sie die anderen beiden verraten würde... "Das sind auf jeden Fall sehr nützliche Informationen", lobte sie Luna noch einmal, denn bei der Art, wie das Mädchen aufgewachsen war, würde das sie wohl ermutigen. "Ich werde deinen Eltern berichten, wie gut du dich schlägst. Aber denk daran, niemandem dort in der Stadt zu vertrauen. Sie alle haben sich Lucilias und Liliths Regeln unterworfen und sind genauso verdorben wie diese beiden selbst. Lass dich nicht einlullen von ihnen."

Mercia sah ruhig auf Luna herab, während die redete. Als diese sagte, dass Lucilia wieder da war, ballte sie die Fäuste so fest, dass ihre Handinnenflächen zu bluten anfingen, und ein wildes Grinsen erschien für einen Moment auf ihrem Gesicht, bevor sie sich wieder unter Kontrolle hatte. "Das hast du sehr gut gemacht, Luna", lobte sie das Mädchen und bedeutete ihr, aufzustehen. "Ich wusste, du würdest die ideale Spionin sein." Sie ließ sich ihre Worte durch den Kopf gehen, wobei sie mühsam ihre immer wieder aufkommende irre Freude zügeln musste. "Drei Gruppen? Also lebt auch Lilith noch?", fragte sie nach. Denn das würde ihre Rache perfekt machen. "Und eine Außenseiterin... Für wie gefährlich hältst du sie?"

Wie erwartet dauerte es nicht lange, bis Luna zum Vorschein kam. Wohlwollend betrachtete Mercia die Kleine. Sie schien zu lernen. Wie sie sich gedacht hatte, tat die Zeit alleine in der Fremde ihr nur gut. "Hallo, Luna", erwiderte sie die Begrüßung. "Also, was hast du zu berichten?" Wie immer fackelte sie nicht lange. Nach außen hin gab sie sich geduldig, doch in ihren Augen flammte ein erwartungsvolles Feuer. Sie sah sich ihrer Rache schon so nah... Und alles hing davon ab, was Luna herausgefunden hatte.

Schließlich erreichte Mercia die zerstörten Städte. Ihr Anblick machte sie jedes Mal aufs Neue wütend, denn er erinnerte sie an das Ende des Krieges, mit dem auch all ihre Hoffnungen und Träume auf eine bessere Welt gestorben waren. Sie war jederzeit bereit, ihre Schwerter zu ziehen, denn hier lebten einige der übelsten Verbannten, die selbst die anderen Verbannten nicht bei sich haben wollten. Schließlich erreichte sie die Ruine, in der sie sich mit Luna verabredet hatte. Sie sah sich nicht um, sondern wartete darauf, dass das Mädchen auftauchte. Wahrscheinlich war sie schon hier und versteckte sich ängstlich.

Auch der tote Wald schüchterte Mercia nicht ein. In Gedanken war sie sowieso bereits wieder bei ihrer Rache. Sie ging bereits fest davon aus, dass Luna ihr gute Neuigkeiten überbringen würde, auf etwas anderes war sie nicht eingestellt.

-> Zerstörte Städte

Stolz und in einem wiegenden Gang schritt Mercia durch den Wald. Sie war die ganze Zeit über aufmerksam und wachsam, hatte aber keine Angst. Im Gegenteil, sie trat auf wie ein Raubtier, dem dieser Wald gehörte. Wovor sollte sie denn auch Angst haben? Sie war bereits oft alleine gereist und wenn sie jemandem begegnet war, ging das meistens nicht gut für den anderen aus. Sie genoss es auch jetzt, wieder alleine unterwegs zu sein.

-> Toter Wald

Einige Tage später verteilte Mercia letzte Anweisungen, bevor sie sich auf den Weg zu ihrem Treffen mit der kleinen Elainyra begab. Das Mädchen mochte schwächlich sein, hatte aber das Potential für eine perfekte Spionin. Gerade wegen ihrer Schwäche. Deswegen hatte sie sie auch ausgewählt. Voller gespannter Erwartung machte sie sich auf den Weg.

-> Großer Wald

Mercia schritt erhobenen Hauptes über den Hauptplatz und nahm jeden genau in Augenschein, dem sie begegnete. Sie würde bald in Richtung Casus aufbrechen, um sich mit ihrer Spionin vor den Stadtmauern zu treffen, und wollte sicher gehen, dass in der Basis während ihrer Abwesenheit alles in geordneten Bahnen verlaufen würde. Mit der Zeit hatte sie hier bei den Verbannten immer mehr Ansehen gewonnen und inzwischen trug sie die meiste Verantwortung hier. Und die meisten wagten es so oder so nicht, ihr zu widersprechen. An sich könnte sie also das Treffen mit der kleinen Elainyra auch an jemand anderen deligieren, doch sie wollte die Informationen aus erster Hand erhalten. Wenn Lucilia wirklich wieder da wäre... Sie wollte die Erste sein, die davon erfuhr! Und dann würde sie bestimmen, welche Informationen die anderen Verbannten erhalten würden. Ein bitteres, grausames Lächeln erschien in ihrem Gesicht, als ihr all die Möglichkeiten für eine angemessen brutale Rache an Lucilia durch den Kopf gingen, und die anderen Verbannten hielten wohlweislich Abstand zu ihr, während sie in dieser Stimmung war.